Netzleben

Ich bin letztes Wochenende zu einem Freund gefahren. Wir wollten erst gucken, wie der Klitschko den Chagaev verkloppt und danach in die Disco. Ein ganz normaler Abend also, alltäglich. Mal abgesehen davon, dass ich in meinem fortgeschrittenen Alter, nicht mehr weit von der bösen 4 vorne entfernt, nicht mehr sonderlich oft in eine Disco gehe. Etwas war aber doch anders, etwas was mir erst einfiel, als ich darauf angesprochen wurde. Ich hatte nämlich das erste Mal völlig in Gedanken beim aus dem Haus gehen den EeePC in der Hand und den UMTS-Stick in der Tasche. Zu Hause sitze ich auch auf dem Sofa, den Laptop auf dem Schoß und gucke Fernsehen. Per Twitter kommentiere ich das Gesehene und lese gleichzeitig, was andere dazu meinen. Und da ich zum „Fernseh gucken“ verabredet war, gehört der Laptop dazu, oder?

Genauso selbstverständlich habe ich auch im Urlaub mindestens einen (bei den letzten beiden mehrtägigen Reisen waren es sogar zwei) Rechner dabei. Warum sollte ich im Urlaub auf etwas verzichten, was ich für so selbstverständlich halte, dass ich es normalerweise gar nicht mehr wahrnehme? Freunde und Arbeitskollegen reißen die Augen auf, wie ein Werwolf der gerade Weihwasser getrunken hat, wenn sie nur hören, dass ich im Urlaub *E-MAILS* lese. Mails, das macht man doch nur auf der Arbeit. Computer sind Werkzeuge, die benutzt man notgedrungen zum Geld verdienen. Ich benutze Computer und Netze nicht. Ich lebe damit. Und auch wenn meine Frau das vielleicht nicht ganz so selbstverständlich sieht, ist sie doch ein zuverlässiger Melder, falls das DSL mal ausgefallen ist. So ganz ohne geht es auch bei ihr inzwischen nicht mehr.

Mein Vater hat mir schon desöfteren gesagt, ich sei doch „schon süchtig“ danach. Ich sehe die Nutzung von Mail, Blogs, Twitter, IRC, ICQ, UseNet, RSS-Feeds, Napster und was es noch alles an Diensten gibt, nicht als Sucht. Es ist die ganz normale Informationsbeschaffung, meine ganz üblichen Kommunikationswege. Hat irgendwann irgendjemandem gesagt, er sei „süchtig“, weil er Zeitung liest oder telefoniert. Oder redet? Warum sollte ich im Urlaub aufhören zu sprechen? Weil ich im Büro auch spreche und im Urlaub nichts mache, was ich auch auf der Arbeit tue? Mein Vater – der mir sagt, ich sei süchtig – hat seinen Laptop den ganzen Tag auf dem Esszimmertisch stehen und er nutzt das Gerät täglich und regelmäßig. Er sucht sich Ersatzteile, liest in Foren, informiert sich über das Wetter und das Tagesgeschehen. Ich glaube, er schreibt sogar E-Mails. Und er ist Rentner und hat den Laptop erst nach dem Berufsausstieg bekommen. Selbst für ihn ist „das Netz“ ein Teil seines Lebens, auch wenn er das vielleicht nicht so sieht. Vielleicht gerade weil er es nicht so sieht. Und natürlich wird er mir sagen, nachdem er das hier gelesen hat (was er täglich tut) dass das nicht stimmt ;-)

Ich habe meinen ersten Rechner so ungefähr 1985/1986 bekommen. Einen beigen C64 mit farblich abgestimmter Datasette (aus Kostengründen von einem Drittanbieter), den ich nach dem Auspacken glücklich lächelnd gestreichelt habe. Genau das gleiche hat übrigens mein Nachwuchs mit seinem Lerncomputer gemacht, der sich beim Ausschalten immer freundlich von ihm verabschiedet. Kurz darauf habe ich bei einem Nachbarn per ebenfalls am C64 angeschlossenen Akustikkoppler erste Mailboxen angewählt. Es war für mich in der Realschule völlig normal, eine Sinuskurve nicht mit dem Bleistift mittels ausgerechneter Koordinaten auf Karopapier zu malen, sondern gleich ein kleines Basicprogramm zu schreiben, welches die Kurve auf dem Nadeldrucker ausgab. Was sage ich, nicht nur die eine Kurve aus Aufgabe 17 auf Seite 8 im Mathebuch, sondern die Kurven *aller Aufgaben* von allen Funktionen die ich dem kleinen Programm vorgeworfen habe. Der Rechner ist für mich keine Arbeit, er ist ein Werkzeug, mir die Arbeit zu erleichtern.

Aus Gründen, die ich im nachhinein nicht mehr so Recht nachvollziehen kann und die wahrscheinlich nicht existieren, hatte ich zwischen 1991 und 1995 keinen Computer. Ich hab’s überlebt. Nachdem ’95 der Pentium bei uns Einzug gehalten hat, kam recht fix ein 14.4er Modem, eins 28.8er Geschwindigkeit, ISDN und sofort nachdem es bei uns bereitstand auch DSL dazu. Meine erste Homepage war 1996 zu bewundern, seit 1999 mit eigener Domain. In der ganzen Zeit habe ich über das Netz Leute kennen gelernt, mit Ihnen Gedanken, Informationen und Hilfe ausgetauscht und es hat mich (außer den – anfangs horrenden! – Verbindungsentgelten) nichts gekostet. Ich gucke im Vorbeigehen im Arbeitszimmer nach meinen Mails oder lese die Schlagzeilen der abonnierten Feeds. Das mache ich auch unterwegs (Flatrate sei Dank) auf dem Handy. Ich kaufe bis bis auf Lebensmittel fast alles Online, mindestens informiere ich mich aber vor dem Kauf im Netz. Ich lerne täglich, stündlich im Internet, vieles was ich lese ist neu. Zeigt neue Sichtweisen, neue Blickwinkel und andere Meinungen. Nichts davon könnte ich in dem Umfang und der Geschwindigkeit mit klassischen Offline-Medien haben.

Meine Schwägerin hat ihren Mann bei Isudi (die Älteren erinnern sich) kennen gelernt und mein Sohn sagt mir, ich soll seine neueste Lego-Kreation fotografieren, um das Bild an den Lego-Club zu *mailen*! Aber nicht vergessen, es auch ins Internet zu stellen! Für ihn gibt es keine Welt ohne E-Mail und Internet.

Das Netz ist selbstverständlich, es ist einfach da, ich nutze es wie ich meinen Mund zum Sprechen oder die Ohren zum Hören nutze. Ich verdiene u.a. meinen Lebensunterhalt damit und ich verbringe einen Teil der Freizeit dort und damit. Ich habe keine blasse Haut, keine eckigen Augen und auch keine strähnigen Haare. Ich weiß wie man einen Schweinestall mistet – nicht aus der Wikipedia, sondern weil ich es selbst gemacht habe. Ich kann einen Vespamotor zerlegen und wieder zusammen bauen und er läuft danach noch wieder. Ich habe das im Internet geschrieben und schon nachts um halb zwölf mit jemandem telefoniert, der das gelesen hat und mich nun fragten wie er die Gehäusehälften des vor ihm liegenden Motors trennen kann. Durchaus nenne ich Menschen meine Freunde, Menschen die ich im „richtigen Leben“ kennen gelernt habe – und auch einige, die ich nur über das Netz kenne. Mit beiden kommuniziere ich u.a. elektronisch.

Ich bin nicht süchtig nach dem Internet. Ich bin auch nicht süchtig nach einem Telefon oder einem Teller Pudding. Ich lebe einfach. Und wenn früher die Leute einen berittenen Kurier los schickten, um jemand anderem etwas mitzuteilen, dann ist das heute per Mail etwas bequemer. Solche wie mich gibt es millionenfach.

Es ist wie es ist, Dinge verändern sich. Und das Problem an der Sache ist, dass es Menschen gibt, die diese Veränderung nicht mitbekommen. Und wenn sie davon hören, es nicht wahr haben wollen. Für diese Menschen ist das Netz unverständlich und böse. Das war schon immer so. Wat der Buer nich kennt, dat frett er nich. Die Erde ist rund? Wo kommen wir denn da hin. Die Sonne ist der Mittelpunkt unseres Sonnensystems? Ketzer! Sobald man schneller als 30 Kilometer in der Stunde fährt, sammelt sich das Blut im Rückenmark – alles was schneller als eine Pferdedroschke fährt, ist Teufelszeug. Wer Milch auf Wasser trinkt, bekommt Läuse im Bauch.

Unsere Politiker verstehen nicht, was das Netz ist und wie es funktioniert. Und sie sollen uns regieren. Aber wie können sie jemanden regieren, der ihnen weit überlegen ist? Nun, sie machen es wie es schon immer gemacht wurde. Informationen werden gekappt. Sie werden gesperrt und weggeschlossen. Diejenigen, die Informationen verbreiten werden denunziert und mundtot gemacht. Leider haben sie eins dabei vergessen: das hat auch in den letzten 2.000 Jahren noch nie dauerhaft funktioniert. Wissen hat sich immer seinen Weg gebahnt. Früher langsamer, aber so wie die Geschwindigkeit der Informationsverbreitung zunahm, nahm auch die Wissensverbreitung zu. Gutenberg hat den Buchdruck erfunden, heute gibt es das Netz. Bücher mussten transportiert und gelagert werden. Das Netz ist einfach da.

Es ist nicht sperr- oder abschaltbar. Und es gelten dort auch keine anderen Gesetze, als im richtigen Leben. Entgegen aller Beteuerungen unserer Regierung. Und das ist gut so.

Die einzige Lösung kann also nur sein, zu informieren. Informiert wen ihr könnt und wo ihr sie trefft. Ich hatte letztlich ein sehr interessantes Gespräch mit dem Onkel und der Tante von Alex und denen waren die Zusammenhänge zwischen Internetsperren, Löschung von Seiten, wer da was fordert und wie es umgesetzt werden soll nicht klar. Und wenn man das mal erklärt, dann lautet die Rückfrage: „Und warum löschen die das dann nicht sofort?“ – tja, und da kann ich dann auch nur mit den Schultern zucken. Ich weiß es einfach nicht.

Wohl aber weiß ich, was das „Zugangserschwerungsgesetz“ bringen wird: ein für diejenigen, die es entsprechend nutzen wollen, herrlich ungestörtes Internet. Denn wenn ein BKA-Beamter eine Seite erstmal auf die Liste gesetzt hat, dann hat er seine Arbeit getan. Aus den Augen aus dem Sinn. Da aktuell ganz offensichtlich die Seiten nicht entfernt werden, werden sie es nach einer Sperre erst recht nicht mehr. Die sind ja nicht mehr zu erreichen. Um eine Verfolgung muß sich hinter dem Stoppschild-Vorhang keiner Sorgen machen. Sorgen müssen sich nur diejenigen, die den Vorhang sehen. Und wir werden immer mehr Vorhänge sehen. Dahinter werden diejenigen, die jetzt als Grund für die Sperren mißbraucht werden, weiter ihrem Schicksal überlassen.

Ich will das Netz weiter nutzen können, ich will keine berittenen Boten mehr. Und ich will keinen Vorhang vor einem Mißstand. Man behebt Mißstände nicht dadurch, dass man wegguckt. Ich gucke nicht weg, wenn jemand auf der Straße seine Frau verprügelt und ich gucke nicht weg, wenn jemand irgendwo am Boden liegt. Es hilft denjenigen dann auch nicht, wenn schnell ein Polizist ein Tuch davor hält und mir sagt: „Hier gibt es nichts zu sehen!“.

Siehe auch: Unkreativ, isotopp

Über

Ich schreibe hier über Fahrrad(politik), Politik an sich, Technik, unsere Familie und alles was mich sonst so bewegt.

3 Kommentare zu „Netzleben

  1. Aua, mein Hals tut jetzt weh … musste beim lesen ja ständig nicken … ich gebe dir absolut recht, schön gesagt und treffend geschrieben!

  2. Und wenn der erste Schritt gegangen ist (Gesetz zu Onlinesperren), dann sind die anderen gar nicht mehr so schwer:

    – Zugang zu Killerspielen soll ebenso gesperrt werden
    – Innenminister beschließen, dass man sich strafbar macht, wenn man "vorsätzlich" Kinderpronos anschaut (wer eine Internetsperre umgeht, handelt doch mit Vorsatz, oder??=
    – …

    Wie gesagt, man muss nur mal den ersten Schritt gehen …

  3. Ein toller Beitrag hinter den ich mich vollinhaltlich stellen kann. Mir tut auch der Hals weh… :-)
    Ich habe eine ähnliche "Entwicklung" im Computerbereich gemacht. Nur war mein Einstieg zwar fast zur selben Zeit, aber ich persönlich war schon in einem höherem Alter.
    Auch hätte ich gern beruflich in dem Bereich etwas gemacht. Aber das Arbeitsamt wollte mir keine Umschulung finanzieren obwohl ich gerade arbeitslos gworden war. Aus eigenen Mitteln war mir das unmöglich. Also mußte ich was anderes machen und beschäftige mich also nur privat mit dem Computer und alles, was zur Datenübertragung gehört.
    DAS aber recht intensiv… :-)

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